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Allegorie und Revolte bei Baudelaire und Blanqui. Walter Benjamins Zeugen der Urgeschichte des 19. Jahrhunderts

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“Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht”[1] – Marx berühmte Formel aus dem Kommunistischen Manifest, die die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Fortschreiten der kapitalistischen Produktionsweise beschreibt, darf auch für die Geschichte der Sprache in der Moderne gelten. Ihre Geschichte ist die Geschichte ihres Verfalls, der Erschütterung ihrer Eindeutigkeit, der Desintegration der Universalität von Bedeutung. Texte von Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud aber auch Rainer Maria Rilke, Friedrich Nietzsche und anderen zeugen von dieser Erfahrung. Aber so wie die kapitalistische Produktionsweise, wie von Marx immer wieder hervorgehoben, alle menschlichen, sozialen Verhältnisse vertilgt und durch Verhältnisse zwischen Waren ersetzt, so offenbart sich auch in der Sprache ein auflösender und zugleich ein willkürlich neue Bedeutungen setzender Moment. Die Zersetzung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die kapitalistische Produktion und die Ersetzung der Beziehungen zwischen Menschen durch die zwischen Waren einerseits und der Sprachverfall und der instrumentelle Gebrauch der Sprache andererseits offenbaren so ihre Verwandtschaft.

Vor diesem Hintergrund entfalten die Revolte und die Allegorie in ihrem jeweiligen Feld ihre explosive Kraft. Sie setzen keinen neuen Wert, keine neue Ordnung, keine neue Bedeutung, sondern sind allein an deren Zerschlagung interessiert. Diese Schicksalsverwandtschaft in den durch die fortschreitende kapitalistische Produktionsweise hervorgerufenen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Krisen Mitte des 19. Jahrhunderts ist Gegenstand des folgenden Textes. Als Vertreter dieser Liaison treten zwei Gestalten auf, wie sie auf den ersten Blick nicht gegensätzlicher sein könnten: Charles Baudelaire, Dichter, Bohémien, Dandy, Künstler der Moderne par excellence; und Louis-Auguste Blanqui, Bürgerschreck, Verschwörer, Ungetüm der Revolution, der unablässig wie kein anderer in Straßenkämpfen, Geheimgesellschaften oder im Gefängnis dem Umsturz der Verhältnisse entgegenarbeitete.

Die Erhellung der Verwandtschaft dieses ungleichen Paars orientiert sich an Walter Benjamin und insbesondere dessen Baudelaire-Projekt, das als Paradebeispiel seiner materialistischen Geschichtsschreibung seit Anfang der 1930er Jahre gelten kann. Erinnert sei hier an die für die nicht-veröffentlichte Version Das Paris des Second Empire bei Baudelaire so wichtige politische und sozialhistorische Rahmung durch die Figur Blanquis.[2] Für Benjamin heißt, Baudelaire mit Blanqui zusammenzustellen, ihn zu retten. Ihre Verwandtschaft mit Blick auf die geschichtlichen Ereignisse, hinsichtlich ihres sozialen Status’ und ihrer Personen, bis hinein in Baudelaires Sprache und zu ihren divergierenden Auffassungen von Geschichte öffnet Baudelaires Dichtung der materialistischen Geschichtsschreibung. Indem Benjamin sie in seiner Kritik auf den Nukleus der modernen Erfahrung, die Ware, bezieht, offenbart er ihren Zeugnischarakter für die Epoche des Hochkapitalismus’, das Second Empire, und lässt sie zur gleichen Zeit über diese hinausweisen.

 

Blanqui und die Februarrevolution von 1848

Wenn für Benjamin materialistische Geschichtschreibung heißt, “die Geschichte gegen den Strich zu bürsten”[3], dann bedeutet dies, die Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seiner Hauptstadt Paris, also die Kultur des französischen Second Empire von den Barrikaden des Pariser Proletariats, dessen Niederlage, der Restauration und der Repression der Arbeiterbewegung in den darauf folgenden Jahren her zu lesen.[4] Für die revolutionäre Tradition des französischen Proletariats im 19. Jahrhunderts ist Blanqui der erste Sachverständige.[5] Blanqui war an allen großen französischen Revolutionen beteiligt: 1830, 1848 und 1870/71. Sein Leben erschöpfte sich zum größten Teil darin, zwischen zwei Extremen stattgefunden zu haben, zwischen Revolution und Niederlage, zwischen Barrikade oder Geheimgesellschaft und Kerker. Dreimal wurde er zum Tod verurteilt und verbrachte, laut dem französischen Historiker Maurice Dommanget, zwischen 1828 und 1879 43 Jahre im Gefängnis oder im Exil, was ihm später den Spitznamen “der Eingekerkerte” eintrug. So ist es nicht verwunderlich, dass seine “kleine, früh weißhaarige Gestalt, bleich und mit grauen, stechenden Augen – stets im schwarzen Umhang und mit schwarzen Handschuhen”[6] – Objekt allerlei Mythologisierungen wurde: Blanqui als übernatürliches, revolutionäres, unmenschliches Ungeheuer. Der deutsche Politikwissenschaftler und Historiker Frank Deppe beschreibt ihn als “Herkules des Verbrechens”[7], als “das Rätsel des sozialen Krieges, als eine Art revolutionärer Sphinx, die sich in der Stille darauf vorbereitet, die Gesellschaft zu verschlingen”[8]. Weite Teile der Pariser Bevölkerung nannten ihn einfach den “General” oder den “Alten”. Marx dagegen bezeichnete ihn zuweilen auch als den “Kleinen”, “Le petit”.[9] Im Jahre 1848 war er für Marx vor allem der erste Repräsentant des französischen revolutionären Sozialismus’[10] und noch im Jahre 1861 der “Kopf und das Herz der proletarischen Partei in Frankreich”[11].

Als Blanqui am Vorabend der Februarrevolution von 1848 aus dem Gefängnis nach Paris zurückkehrte, begann er umgehend, sich in der revolutionären Bewegung zu engagieren, und gründete einen Club zur Überwachung potentieller gegenrevolutionärer Aktivitäten der provisorischen Regierung. Was für ihn dabei auf dem Spiel stand, war die Sicherung der Revolution durch die Verhinderung eines gegenrevolutionären Umschwungs. In einer provisorischen, revolutionären Regierung habe das Proletariat eine Diktatur zu etablieren, um die Forderungen des Volkes zu erfüllen und sich anschließend selbst aufzulösen. Diese Erfüllung sei die Bedingung für eine freie Entwicklung des Volkes zur Mündigkeit. Bereits vom 17. März an schien Blanqui jedoch vom Sieg der Konterrevolution überzeugt. Aufgrund der Übermacht der Gegenrevolution und der Zunahme der Repressionen durch die Regierung entschloss sich der enttäuschte und entmutigte Revoluzzer, den Massenkampf aufzugeben und von Geheimgesellschaften aus die Regierung verschwörerisch zu unterminieren. Die Niederschlagung des Aufstands vom 23. Juni besiegelte letztlich den Sieg der Gegenrevolution über die Revolution. Unter dem Schlachtruf “Brot! Arbeit! Oder die Kugel” verteidigten 50.000 Proletarier vergeblich ihre Barrikaden in Paris. Zu diesem Zeitpunkt saß Blanqui jedoch bereits in Haft. Kurz darauf wurde er zu 10 Jahren Kerker verurteilt.

 

Baudelaire – Geheimagent in der eigenen Klasse

Es ist wichtig zu verstehen, dass Benjamin Baudelaire vor allem vor diesem historischen Hintergrund liest. Allerdings nicht vor dem der Revolutionstage von 1848 selbst. Schon der Arbeiteraufstand von 1832 in Lyon, den Baudelaire als Elfjähriger erlebte, hatte, so Benjamin, keine Eindrücke bei ihm hinterlassen. Viel wichtiger für Benjamins Baudelaire-Lektüre ist die im Anschluss an 1848 errichtete scheinhafte Pariser Großstadtphantasmagorie mit ihren Versprechungen von Fortschritt und Glück, auf deren Unterseite sich der Niedergang des französischen Bürgertums abzeichnete, das seine progressive, politische Stellung für die Allianz mit dem Bonarpartismus eingetauscht hatte, um seine eigenen ökonomischen Interessen zu sichern. Eine kritische Betrachtung Baudelaires hat für Benjamin daher “seinen Machenschaften dort nachzugehen, wo er ohne Zweifel zu Hause ist: im gegnerischen Lager. [...] Baudelaire war ein Geheimagent – ein Agent der geheimen Unzufriedenheit seiner Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft.”[12] Geheim war seine Spionagetätigkeit in der eigenen Klasse aber nicht zuletzt Baudelaire selbst. Denn die ökonomische Grundlage deren Herrschaft durchwirkt auf eine ihm unbewusste Weise seine Dichtung und bricht sich in ihr.

Bei Baudelaire rührte diese geheime Unzufriedenheit zunächst von seiner eigenen Stellung im Literaturbetrieb her, der sich unter dem Einfluss des Journalismus’ einer zunehmenden Kommerzialisierung ausgesetzt sah. Im Feuilleton, im Café und auf den Boulevards vollzog sich die Assimilierung des Literaten in die Gesellschaft. Und die Honorare für die literarische Tagesware waren gigantisch. Alphonse de Lamartine beispielsweise wurden zwischen 1838 und 1851 etwa 5 Millionen Francs Honorar berechnet.[13] Der unbekannte Baudelaire dagegen verdiente zu Lebzeiten nicht mehr als 15.000 Francs mit seinem Werk. Bis auf einen kleinen Erfolg seiner Fleurs du mal im literarischen Untergrund, der jedoch vom Skandal des Verbots der ersten Ausgabe von 1857 herrührte und den Baudelaire ökonomisch nicht auskosten konnte, lebte der Dichter Zeit seines Lebens in Armut und relativer Unbekanntheit. Von den kommerziellen Ansprüchen seitens des Literaturbetriebs ebenso wie von unzähligen Gläubigern getrieben, wusste Baudelaire, “wie es um den Literaten in Wahrheit stand: als Flaneur begibt er sich auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.”[14] Es rührt von Baudelaires Inkompatibilität mit der literarisierenden Feuilleton-Industrie her, dass seine Physiognomie Ähnlichkeit mit der des politischen, agitatorischen Bohémiens, wie z.B. Blanqui annimmt.

Sein Werk trägt die Charakterzüge dieses Milieus: “überraschende Proklamationen und Geheimniskrämerei, sprunghafte Ausfälle und undurchdringliche Ironie”[15], wütend, makaber, politisch wankelmütig, immer radikal, aber niemals konsequent. So wie Blanqui nimmt auch Baudelaire eine Zwitterstellung im Milieu der Pariser Bohème ein. Blanqui ist einerseits Putschist, andererseits erscheint er als der doktrinäre habit noir, stets in schwarzen Handschuhen dozierend. Baudelaire selbst nannte den schwarzen Frack “die Schale des modernen Helden”[16]. Im Salon von 1846 schreibt er: “Ist er nicht das notwendige Kleidungsstück für unsere leidende Epoche, die auch noch auf ihren schwarzen, hageren Schultern das Symbol einer ewigen Trauer trägt? Und wohlgemerkt, der schwarze Frack und der Gehrock haben nicht nur ihre politische Schönheit, als ein Ausdruck der allgemeinen Gleichheit, sondern auch ihre poetische Schönheit, als Ausdruck der öffentlichen Gemütsverfassung; – ein unabsehbarer Heereszug von Leichenbittern, bürgerlichen Leichenbittern. Wir tragen jeder etwas zu Grabe.”[17] Die Undurchdringlichkeit, das ernsthafte und zugleich bornierte Festhalten an den eigenen Ideen, das Verschwörertum machen Blanqui und Baudelaire zu Ebenbildern. “Baudelaire steht im literarischen Betrieb seiner Zeit ganz ebenso isoliert wie Blanqui im konspirativen.”[18] So wie Blanqui zwischen Bohémien und doktrinärem Revolutionär, so ist Baudelaire zwischen bürgerlichem Dichter und revoltierendem Bohémien gespalten.

 

Das Second Empire in den Blumen des Bösen

Ihre Verwandtschaft erschöpft sich aber nicht in ihren Personen oder ihrer sozialen Stellung, sondern erstreckt sich auch auf Baudelaires literarisches Material. So wie Blanqui unablässig gegen das französische Bürgertum anzettelte, so konnte es auch Baudelaire nicht darum gehen, ein freundliches Bild von der bürgerlichen Gesellschaft des Second Empire zu malen. Alles, bis hin zu seiner eigenen Person musste er ins Asoziale und Grausame einbringen. Den Abstieg auf der Stufenleiter, auf dem Baudelaire ein Stück seines bürgerlichen Daseins nach dem anderen preisgibt, begeht er zusammen mit der Klasse seiner Herkunft. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen, die auf diesem Abstieg sich ihre Zeit mit dem Genuss in der Gesellschaft vertreiben, findet Baudelaire nur Genuss an ihr. Dabei betrachtet er sie als bereits Ausgeschiedener, der an ihrem Zerfall seine Lust weckt und sein Sensorium für das Faulendste und Abstoßendste entwickelt. Von hier aus wird der Dichter zum Lumpensammler, wie Baudelaire ihn in Les fleurs du mal immer wieder auftreten lässt.

Oft kommt bei der Laterne rotem Schimmer,
Das jeder Windstoss zucken macht und flimmern,
Im Labyrinth der Vorstadt dumpf und feucht
Darin die Menschheit wie in Gärung keucht

Ein Mann daher, der taumelnd Lumpen sammelt,
An Mauern rennt und wie ein Dichter stammelt,
Den Kopf im Nacken, trotz der Späher Schar
Macht er der Welt erhabne Pläne klar.[19]

Der Dichter als Lumpensammler sammelt den Abhub, die Abfälle des Tages, alles was die Gesellschaft aussonderte, was sie verachtet und verstößt. In diesen Fetzen und Fragmenten findet er die wahre Schönheit der Moderne, eine, die zu baldiger Vergängnis verdammt ist. In ihnen erblickt er das wahre Gesicht der modernen Gesellschaft, der er selbst als Abfall gilt.

Für Baudelaire ist der Lumpensammler eine Verkörperung des modernen Helden. Dieser ist aber nicht der Superheld, wie wir ihn heute kennen, der in einem Moment von der Gesellschaft verstoßen wird, um sie im nächsten zu retten und von ihr auf Händen getragen zu werden. Der Baudelairesche Held ist und bleibt ein Verstoßener, ein Gefallener. Daher Baudelaires Gefühle der Verwandtschaft mit tragisch scheiternden Helden der Antike wie zum Beispiel in seinem Gedicht Die Klagen eines Ikarus.

Ich hoffte, im Raum zu erkennen
Der Dinge Mitte und Schluss,
Und fühl’ nun im Glutenkuss
Meine Flügel zerfallen, verbrennen.

Vernichtet vom Schönheitsdrang
Wird mir kein Nachruhm zu eigen,
Es wird meinen Namen verschweigen
Die Tiefe, die mich verschlang.[20]

Doch während das Scheitern des tragischen Helden der Antike immer auch eines in der Gesellschaft war, steht der moderne Held Baudelaires von je her außerhalb der Gesellschaft. Sein Scheitern ist ein einsames Scheitern auf dem Weg seines Begehrens nach Schönheit und Bedeutung.

Bei Baudelaire sind Lust und Vergängnis, Schönheit und Tod daher unzertrennlich. Benjamin nennt diese Haltung Baudelaires “Mimesis des Todes”[21]. Überall sucht er ihn auf, den Tod: Als gesellschaftlichen Tod in der Figur des Apachen, als Tod der Dinge, die von der Gesellschaft ausgestoßen sind, in der Figur des Lumpensammlers, als Vergänglichkeit der Stadt, als Vergänglichkeit der Moderne selbst und als Allegorie. Diese tausend Tode führen ihn ins Innere der Moderne. Der zum Scheitern verurteilte Kampf gegen sie ist die Arbeit des modernen Helden.

 

Dichten als Kampf

Tiefer aber noch als an seine literarischen Motive rührt Baudelaires Verwandtschaft zu Blanqui an seine Sprache. “Der Rätselkram der Allegorie beim einen, die Geheimniskrämerei des Verschwörers beim anderen.”[22] Die Lust an Tod und Verfall, das Verschwörerische und Geheimnisvolle sind Baudelaires Sprache selbst eingeschrieben. Ob Flaneur, Apache, Dandy oder Lumpensammler, hinter all den Masken, hinter denen Baudelaire heldenhaft Stellung bezieht, bleibt er inkognito. “Sein Versbau ist dem Plan einer großen Stadt vergleichbar, in der man sich unauffällig bewegen kann, gedeckt durch Häuserblocks, Torfahrten oder Höfe. Auf diesem Plan sind den Worten, wie Verschworenen vor dem Ausbruch einer Revolte, ihre Plätze genau bezeichnet. Baudelaire konspiriert mit der Sprache selbst. Er berechnet ihre Effekte auf Schritt und Tritt.”[23] So wie Blanqui im Schatten der Geheimgesellschaften, so versteckt sich Baudelaire in seinem Versbau. Dort bringt er seine Worte in Stellung und konspiriert mit der Sache. Undercover nähert er das Wort dem Ding, niemals auf direktem Weg. “Kein Wort seines Vokabulars ist von vornherein zur Allegorie bestimmt. Es empfängt diese Charge von Fall zu Fall; je nachdem, worum die Sache geht, welches Sujet an der Reihe ist, ausgespäht, zerniert und besetzt zu werden. Für den Handstreich, der bei Baudelaire Dichten heißt, zieht er Allegorien in sein Vertrauen.”[24] Im Bild des Fechters wird das Dichten zum Kampf.

Schreit’ ich, phantastische Fechterkünste verführend,
In allen Winkeln die Reime witternd und spürend,
Über Worte strauchelnd und Steine, wie Trunkne es tun,
Und Verse stammelnd, die träumend schon lang in mir ruhn.[25]

Charge und Besetzung; die Allegorie als die Ladung, die Sujets als die umkämpften Gebiete. Die Angriffe erfolgen aus immer neuen Winkeln, jede Allegorie ist wie die nächste Attacke strategisch geplant. Baudelaire als Poet ist Stratege, Verschwörer, Revoluzzer. “Seine Technik ist die putschistische.”[26]

 

Blanqui und Baudelaire – vorm Tribunal der Geschichte

Doch nicht jedem mag die Verwandtschaft zwischen Baudelaire und Blanqui, zwischen Allegorie und Revolte so gewiss erscheinen. Bertolt Brecht, den Benjamin 1938 in Dänemark besuchte, sah sie unter ungleich düstereren Vorzeichen. Sich an Marx’ Darstellung der Ereignisse von 1848 in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte erinnernd, schreibt er: “Baudelaire ist ein Dichter des französischen Kleinbürgertums einer Epoche, wo schon feststand, daß die Bütteldienste, die es der Großbourgeoisie bei der blutigen Unterdrückung der Arbeiterklasse geleistet hatte, nicht belohnt werden würden.”[27] Für Brecht verkörpert Blanqui das für Sozialismus kämpfende französische Proletariat, während er in Baudelaire einen ins Lumpenproletariat gefallenen Kleinbürger sieht, der sich in seiner Dichtung über seine eigene Klassenlage selbst belügt.[28] Auf Benjamins emphatische These: “Blanquis Tat ist die Schwester von Baudelaires Traum gewesen. Beide sind ineinander verschlungen. Es sind die ineinander verschlungenen Hände auf einem Stein, unter dem Napoleon III. die Hoffnungen der Junikämpfer begraben hatte”[29], antwortet Brecht deshalb provokativ: “Baudelaire ist der Dolchstoß in den Rücken Blanquis. Blanquis Niederlage ist sein Pyrrhussieg.”[30]

Zwar geht für Benjamin die Verwandtschaft zwischen Baudelaire und Blanqui viel weiter als ihre jeweilige Klassenstellung, trotzdem berührt Brecht damit eine Differenz zwischen den beiden, die auch Benjamin – wenn auch auf andere Weise – gelten lassen will. Für Benjamin besteht diese Differenz nicht in ihrer Stellung zu ihrer Klasse, sondern in ihrer jeweiligen Stellung im Prozess der Geschichte. “In dem geschichtlichen Prozeß, den das Proletariat der Bürgerklasse macht, ist Baudelaire ein Zeuge, Blanqui aber ein Sachverständiger.”[31] Und weiter heißt es: “Wenn Baudelaire vor das Tribunal der Geschichte zitiert wird, so muß er sich manche Unterbrechung gefallen lassen; ein Interesse, ihm vielfach fremd und ihm vielfach undurchschaubar, bestimmt dessen Fragestellung. Die Sache dagegen zu welcher sich Blanqui äußert, hat er zu der seinen von jeher gemacht. Darum erscheint er als Sachverständiger, wo sie verhandelt wird. Es ist mithin nicht ganz im gleichen Sinn, in dem Baudelaire und Blanqui vor das Tribunal der Geschichte zitiert werden.”[32] Annähernd verstehen lässt sich dieses komplizierte Denkbild vielleicht nur, wenn man den epischen Charakter des Prozesses berücksichtigt, denn, wie Benjamin selbst betont, “die Verhandlung wird angestellt, nicht berichtet”[33]. Baudelaire ist ein Teil des historischen Geschehens und zugleich ist es ihm fremd; er ist sich selbst, seiner Beteiligung gegenüber entfremdet. Anders Blanqui: dem Berufrevolutionär sind die Unterbrechungen sein Geschäft – denn was sind besagte Unterbrechungen anderes als die französischen Revolutionen? Blanqui ist ganz in das Geschehen involviert, es ist seit jeher seine Sache. Während also Blanqui eine Beziehung der Identität unterhält, gibt es bei Baudelaire einen reflexiven Bruch. In Anlehnung an Brechts Theorie des epischen Theaters ließe sich unterscheiden zwischen dem Zeugnis des dem Geschehen gegenüber entfremdeten Zuschauers (Baudelaire) und der nicht kontemplativen Innenansicht des beteiligten Experten, der stets zu wissen glaubt (Blanqui). Würde man diesen Unterschied mit Marx’ Verwendung der Theatermetapher in Der achtzehnte Brumaire zuspitzen wollen, könnte man sagen, dass Blanqui auf der Bühne der Geschichte die Vergangenheit parodierend seine Rolle spielt und sich nicht von ihr zu distanzieren vermag. Unterdessen wird Baudelaire gleich dem Zuschauer im epischen Theater ins historische Geschehen verwickelt, welches er als befremdend, unbekannt und merkwürdig erfährt. Hier vollzieht sich Baudelaires Bruch mit der modernen Gesellschaft, die als befremdliches, geheimnisvolles und unverständliches Geschehen in seine Dichtung eingeht. Baudelaire wird zum “geheimen Geheimagenten” in der eigenen Klasse, nicht weil er diese als Klassenverräter bewusst zu unterminieren versucht, sondern weil er sich in der Erfahrung der bizarren, phantasmagorischen Welt des Second Empire nach 1848 von ihr entfremdet und sie zugleich auf eine ihm unbewusste Weise seine Dichtung bestimmt. Vollständig lässt sich das Bild vom Tribunal der Geschichte vielleicht nur schwer auflösen, doch es verweist auf eine Differenz zwischen Baudelaire und Blanqui hinsichtlich ihrer Auffassung von Geschichte.

 

Blanquis kosmologischer Mythos der ewigen Wiederkehr

Im Jahre 1872 zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, widmet sich Blanqui im Fort Du Taureau Fragen der Astronomie und Kosmologie und verfasst seine letzte große Schrift Éternité par les astres [Die Ewigkeit durch die Sterne]. Seine durch die Lehren des mechanischen Materialismus’ inspirierte Untersuchung der Entstehung und Entwicklung des Universums mündet in die Theorie einer unendlichen und unabwendbaren Wiederholung des immergleichen Geschehens. Für Blanqui gibt es in der unendlichen Bewegung der Materie keinen Fortschritt, nur die ewige Wiederkehr des Immergleichen. Während Benjamin den Hauptteil der Schrift als unbeholfene, autodidaktische Überlegungen abtut, interessiert ihn besonders die darauf folgende kosmologische Spekulation. Blanqui schreibt:

Das ganze Universum besteht aus Sternsystemen. Um sie zu schaffen, hat die Natur nur hundert Elemente zur Verfügung. Trotz aller Erfindungskunst und trotz der unendlichen Anzahl von Kombinationen, die ihrer Fruchtbarkeit zur Verfügung stehen, ist das Resultat notwendig eine endliche Zahl gleich der Zahl der Elemente selbst. Um den Raum auszufüllen, muß die Natur ihre ursprünglichen Kombinationen und Typen ad infinitum wiederholen. Es muß deshalb jeden Stern in Zeit und Raum unendliche Male geben, nicht bloß so, wie er einmal erscheint, sondern nach jedem Augenblick seiner Dauer von seinem Entstehen bis zu seinem Untergang. Solch ein Stern ist die Erde. Darum ist auch jedes Menschenwesen ewig in jedem Augenblick seiner Existenz. Das, was ich in diesem Augenblick in einer Zelle des Forts Du Taureau schreibe, das habe ich geschrieben und das werde ich in alle Ewigkeit schreiben [...] Eines freilich fehlt daran: Fortschritt. Was wir so nennen, ist eingemauert in jede Erde und vergeht mit jeder. Stets und überall auf den Erden das gleiche Drama, die gleiche Dekoration, auf derselben schmalen Bühne, eine brausende Menschheit, berauscht von ihrer Größe. [...] Das Universum wiederholt sich unendlich und tritt auf der Stelle. Unbeirrt spielt die Ewigkeit im Unendlichen stets und immer das gleiche Stück.[34]

Mit Marx gesprochen, hat das Jahrhundert es nicht vermocht, den gesteigerten Produktivkräften mit neuen Produktionsverhältnissen zu entsprechen, und so ist Blanquis Éternité par les astres vor allem die phantasmagorische Spekulation eines gescheiterten Revolutionärs, der sich am Ende seines Lebens dem Gedanken unterwirft, dass wirklich Neues in dieser Welt nicht möglich, dass alles vermeintlich Neue vielmehr die Wiederkehr von Gleichem ist. Gleichwohl ist es eine höllische Vision, wie keine andere. “In ihr”, so Benjamin, “figuriert die Menschheit als eine Verdammte. Alles Neue, das sie erwarten könnte, wird sich als ein Von jeher dagewesenes entschleiern; sie zu erlösen, wird es ebensowenig imstande sein, wie eine neue Mode die Gesellschaft erneuern könnte.”[35] Gerade aber von diesem Höllischen und Infernalischen her beginnt diese Phantasmagorie zu kippen. Indem Blanqui dieses fatale Weltbild in die Sterne transponiert, erhebt sich seine rückhaltslose Unterwerfung unter die Gesellschaft zur furchtbaren Anklage gegen dieselbe. Benjamin zufolge ist es “ein Kniefall von solcher Gewalt, daß ihr Thron darüber ins Wanken kommt.”[36] Die Ambivalenz dieser Position ist offensichtlich. Einerseits ist die ewige Wiederkehr das Grundschema des urgeschichtlichen, mythischen Bewußtseins, andererseits erscheint “der Weltlauf [...] hiernach eigentlich als eine einzige große Allegorie.”[37] Einerseits vermag Blanqui sich die Moderne nicht anders als im Mythos der ewigen Wiederkehr zu erklären, andererseits wird seine kosmologische Erklärung für Benjamin zu einer Allegorie für das moderne Geschichtsbewusstsein. Aus Blanquis Idee der ewigen Wiederkehr spricht die Erfahrung, dass mit dem Sieg des Kapitalismus’ wirklich Neues unmöglich geworden zu sein scheint. Allerdings, so furchterregend sie ist, Blanquis Vision bleibt ein Kniefall vorm Thron der modernen Gesellschaft, welche er im Mythos verklärt.

 

Allegorie und Warenform

Anders als bei Blanqui, bei dem die Scheinhaftigkeit im Mythos der Wiederkehr des Immergleichen bestehen bleibt, kommt es in Baudelaires Allegorie zu einem Bruch, insofern die Warenform, die Elementarform der bürgerlichen Gesellschaft, selbst einen allegorischen Bauplan aufweist, die Allegorie allerdings, anders als die Warenform, ihre eigene Struktur reflektiert. Der Allegoriker zunächst, ist im Allgemeinen von der Verworrenheit und der Zerstreutheit der Dinge in der Welt betroffen. Allerdings hat er es, im Gegensatz zum Sammler, aufgegeben, den Bedeutungen nachzuforschen, die den Dingen eigen sein mögen. Vielmehr löst er sie aus ihren symbolischen Ordnungen heraus, isoliert und fragmentiert sie. Daher ist er stets von verstreuten, unfertigen, kaputten Dingen umgeben. Sie sind ihm, wie Benjamin schreibt, “nur Stichworte eines geheimen Wörterbuchs”[38]. Ihre Bedeutungen lassen sich nicht vorhersehen und daher greift der Allegoriker “bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zu einander passen: jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen läßt das Ergebnis sich nie; denn es gibt keine natürliche Vermittelung zwischen den beiden.”[39]

Im Trauerspielbuch führt Benjamin die Barockallegorie auf die damalige Zeit gesellschaftlicher Krisen, fortdauernder Kriege und das daraus resultierende materielle Elend zurück – eine Parallele mit Benjamins eigener Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Der modernen Allegorie liegt aber ein anderer historischer Index zugrunde. Während die Barockallegorie Ausdruck der Erniedrigung der Natur durch materielle Not und den Gegensatz zwischen Christentum und heidnischer Antike ist, leitet Benjamin die moderne Allegorie Baudelaires aus der Entwertung der Dinge durch die Ware her.[40]

Ausgehend von Benjamins fragmentarischen Notizen lässt sich das Verhältnis von Ware und Allegorie grob folgendermaßen darstellen. Zunächst betrifft es die Abstraktion aller Tätigkeiten und Dinge auf ihren Wert, der sich im ihrem Tauschwert ausdrückt. Diese in der Wertformanalyse grundsätzliche Bestimmung der Ware gilt homolog auch für die Allegorie, insofern die allegorische Anschauung die Dinge in den Dienst eines ihnen selbst äußerlichen Ausdrucksverhältnisses stellt. Die von Marx in der Analyse des mehrschichtigen Ausdrucksverhältnisses der Warenform beschriebene Wert-Abstraktion, die zugleich real ist, insofern sie die Grundlage der Wertverhältnisse der Waren in der kapitalistischen Welt bildet, wiederholt sich also in der Allegorie. Dass dem sinnlichen Ding, dem Warenkörper, eine Wertgegenständlichkeit zukommen kann, ist diesem ebenso wenig immanent als dem sinnlichen Ding ein allegorischer Wert. Ihre allegorische Existenz ist den Dingen ebenso fremd wie ihr Wert als Waren.

Ebenso korrespondieren Allegorie und Ware in ihrem Verhältnis zur Bedeutung bzw. zum Preis. Gilt in der Allegorie jede “natürliche Vermittlung” zwischen Bild und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat als ausgestrichen, so verhält es sich mit Ware und Preis ebenso. Die Spitzfindigkeiten der Preisgestaltung lassen sich nie ganz durchschauen. Der Preis ist entweder Gegenstand des Klassenkampfes (als Preis für die Ware Arbeitskraft) oder unterliegt der Willkür des Marktes. Ähnliches gilt, so Benjamin, auch für den Gegenstand in seiner allegorischen Existenz. “Es ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, zu welcher Bedeutung der Tiefsinn des Allegorikers ihn befördern wird. Hat er aber solche Bedeutung einmal erhalten, so kann sie ihm jederzeit gegen eine andere Bedeutung entzogen werden. Die Moden der Bedeutungen wechselten fast so schnell wie der Preis für die Waren wechselt.”[41] Wenn für die Ware der Preis den gleichen Ort besetzt wie die Bedeutung für den allegorischen Gegenstand, dann, so Benjamin, ist der Allegoriker bei ihr in seinem Element.

Hier ist der Einsatzpunkt, von wo aus sich die entscheidende Differenz zwischen der modernen Allegorie und der Ware begründet. Wenn die Bedeutung der Ware ihr Preis ist, so erkennt der Allegoriker “im »Preisetikett«, mit dem die Ware den Markt betritt, den Gegenstand seiner Grübelei – die Bedeutung – wieder.”[42] Der Preis verdeckt den Klassenantagonismus, der der kapitalistischen Produktionsweise zugrundeliegt. Der Allegoriker aber kann sich mit diesem Scheinfrieden zwischen Ware und Preis, zwischen Ding und Bedeutung nicht abfinden. Jenseits des Scheins von Bedeutung stellt sich ihm die Materie als gescheiterte dar. Das, so Benjamin, bedingt die “Erhebung der Ware in den Stand der Allegorie.”[43] Der Scheinhaftigkeit ihrer Bedeutung entlarvt, kehren die Dinge nicht wieder zu ihrer bloß sinnlichen, dinglichen Existenz zurück, sondern sind – man denke hier auch an die veralteten Waren, denen Benjamin später in den Pariser Passagen begegnet – gescheitert. Und als gescheiterte stellt der Allegoriker sie in den Dienst eines neuen Ausdrucks – nicht als neuer Schein, sondern als allegorischer Ausdruck dieses Gescheitert-Seins. Dabei bleibt die Arbeit des modernen Dichters von diesem Scheitern nicht ausgenommen. Das sie stets aufs Neue antreibende Begehren nach Bedeutung, danach der Zeit zu ihrem Ausdruck zu verhelfen, wird nicht erwidert. Von seinem Scheitern her wird der Dichter zum Allegoriker. In der Allegorie kommt seine nur mehr abstrakte Arbeit als Leiden zum Ausdruck. Die Allegorie ist also die Form der Selbstreflexion dieses Scheiterns. Bei Baudelaire taucht es immer wieder in der Gestalt des Todes auf.

Ach, meine Seele sprang, – und ich will singen,
In kalter Nacht die Einsamkeit zu zwingen,
Dann hör’ ich meine eigne Stimme tönen

Wie eines wunden Kriegers dumpfes Stöhnen,
Den man vergass in seiner letzten Not,
Der zwischen Leichen stirbt den bittren Tod.[44]

Hier wird die Dichtung (“meine eigne Stimme”) zur Allegorie, weil sie misslingt und nicht die Bedeutungslosigkeit der Moderne (“in kalter Nacht die Einsamkeit”) zu bezwingen vermag. Im gleichen Zug lässt sie den Dichter – hier hinter der Maske des tödlich verwundeten Kriegers auf dem Schlachtfeld, welches das Second Empire ist – den eigenen nahenden Tod erkennen.

In den Händen des Allegorikers sind, um noch einmal Marx’ berühmte Formel aufzugreifen, alle Bedeutungen und aller Sinn verdampft, alle Dinge sind im Zustand ihrer Warenförmigkeit entweiht – und zugleich allseitig geweiht, diesen Verlust allegorisch zum Ausdruck zu bringen. Allegorie und Warenform sind sich verwandt in ihrer nicht-naturalistischen, willkürlichen Bedeutungs- bzw. Wertproduktion. Und daher konspiriert Baudelaires allegorische Anschauung im Geheimen mit der Warenform. In der Reflexion auf das eigene Scheitern überführt sie diese jedoch im gleichen Zug ihrer Willkür und Scheinhaftigkeit. Alle Versuche der Wiederbelebung des Vergangenen, der Ausgrabung verschütteter Bedeutungen müssen scheitern. Baudelaires Allegorie setzt keine neue scheinhafte Totalität, keine neue symbolische Ordnung, in der die Dinge wieder bedeutsam werden. Daher gibt es bei Baudelaire auch kein Genießen des Scheins, sondern nur ein sadistisches Genießen dessen Auslöschung. Auf diese Weise tritt die Warenform “als der gesellschaftliche Inhalt der allegorischen Anschauungsform bei Baudelaire zutage.”[45] Die Allegorie ist die moderne Form der Selbstreflexion der Erniedrigung von Ding und Arbeit zu Waren.

 

Das Neue und das Immergleiche

Erst aus diesem Verhältnis von Ware und Allegorie erklärt sich die Differenz zwischen Baudelaires und Blanquis Auffassungen von Geschichte. Sie beide teilen die Erfahrung, dass mit dem Sieg des Kapitalismus’, wirklich Neues unmöglich geworden zu sein scheint. Mit der Preisgabe ihrer progressiven, politischen Stellung durch die französische Bourgeoisie im Austausch gegen die Sicherung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihrer Verschleierung in den Glück versprechenden Phantasmagorien des Kapitals scheint die Geschichte an ihr Ende gekommen. Das Geschichtsbewusstsein, in dem sich die Erfahrung dieser Epoche mitteilt, ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr, den Blanqui ins Höllische steigert, indem er ihn in der Entstehung und Bewegung der kosmischen Körper im Universum begründet.

Anders allerdings als Blanqui, der im Neuem nur die Wiederkehr des Immergleichen erblickt, versucht Baudelaire das Neue dem Immergleichen heroisch abzuringen. Doch es geht ihm nicht um eine neue künstlerische Form oder einen neuen Stil. Vielmehr geht es ihm um einen neuen Gegenstand, der sich allein dadurch auszeichnet, dass er neu ist – so schrecklich und trostlos wie er sein mag. Dieser Gegenstand ist die Moderne selbst. Doch auf der Suche nach ihrem Wesen findet er jenseits ihrer phantasmagorischen Erscheinungen, jenseits der schönen neuen Welt der Waren, “daß das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies Neueste in allen Stücken immer das Nämliche bleibt.”[46] Seine Suche danach, was diese Welt im Innersten zusammenhält, scheitert immer wieder neu dort, wo sie auseinanderbricht, die Negativität der Warenform. Der Moderne vermag er nur Ausdruck zu verleihen, indem er sich mit dieser realen Negativität identifiziert und sie in seinem Scheitern und Leid reflektiert.

Blanqui verewigt die Warenform indem er das Immergleiche in die Unendlichkeit des Universums projiziert. Bei Baudelaire dagegen ist der Sternenhimmel leer. Wo Blanqui das Leben in all seinen bereits ausgetretenen Pfaden sieht, erblickt Baudelaire ewige Vergängnis.

So bete ich dich an, wie nächt’ger Wölbung Neigen,
Urne der Traurigkeit, o grosses, dunkles Schweigen,
Und liebe, Schöne, dich gleich heiss, ob du mich fliehst,
Ob du, Zierat der Nacht, durch meine Träume ziehst,
Um lächelnd und voll Spott endlose Kluft zu breiten,
Die meine Arme trennt von blauen Ewigkeiten.
Zum Angriff strüme ich, berenne, dringe vor
Wie an dem Leichnam klimmt der Würmer Schar empor,
Liebkos dich, grausam Tier. – Du höhnst mein Liebesmühen,
Doch deine Kälte lässt nur heisser mich erglühen.[47]

 


[1] Karl Marx: “Das Manifest der Kommunistischen Partei”, in: MEW, Bd. 4, Berlin: Dietz, 1977, S. 459-493, hier S. 465.

[2] Das Paris des Second Empire bei Baudelaire ist der zweite von den drei Teilen Benjamins Baudelaire-Projekts. Während Benjamin für den ersten und dritten Teil umfassende Materialsammlungen anlegte, arbeitete er seit 1937 vor allem an dem mittleren Teil. Der erste von Benjamin Ende September 1938 nach New York geschickte Entwurf wird von Adorno und Horkheimer abgelehnt. In den darauf folgenden Monaten führen Benjamin und Adorno eine intensive, briefliche Debatte, nach der sich Benjamin Anfang 1939 an die Überarbeitung begibt, deren Resultat der 1940 veröffentlichte Text Über einige Motive bei Baudelaire ist. Neben vielen anderen Änderungen ist in dieser veröffentlichen Fassung auch der Bezug zu Blanqui gestrichen.

[3] Benjamin, GS I.2, S. 697.

[4] Vgl. Michael Löwy: Fire Alarm. Reading Walter Benjamin’s ‘On the Concept of History’, London, New York: Verso, 2005, S. 55.

[5] Für Benjamin ist Blanqui einer der großen Zeugen für den jahrzehntelangen, verzweifelten Kampf der Arbeiterklasse gegen Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung. Er war fasziniert von dem Revolutionär, interessierte sich aber nicht nur für die Person Blanqui, sondern auch für dessen Ideen. Blanquis Bezeichnung des Proletariats als moderne Sklaven, die auf einem Geschichtsbegriff beruhte, der Geschichte vor allem als die Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung begreift und Positivismus wie Fortschrittsideologie radikal ablehnt, musste Benjamin sympathisch erscheinen. Vgl. Löwy 2005, S. 82ff..

[6] Frank Deppe: Verschwörung, Aufstand und Revolution. Blanqui und das Problem der sozialen Revolution im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt, 1970, S. 2.

[7] Ebd. S. 2.

[8] Zitiert nach ebd. S. 1.

[9] Marx, MEW, Bd. 32, S. 337.

[10] Vgl. Marx, MEW, Bd. 7, S. 89.

[11] Marx, MEW, Bd. 30, S. 617.

[12] Benjamin, GS I, S. 1161.

[13] Vgl. Benjamin, GS V, S. 913.

[14] Benjamin, GS I, S. 536.

[15] Ebd. S. 514.

[16] Charles Baudelaire: “Der Salon 1846″, in: ders.: Sämtliche Werke/ Briefe, Bd.1, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München: Hanser, 1977, S. 193-283, hier S. 281.

[17] Ebd.

[18] Benjamin, GS V, S. 465.

[19] Charles Baudelaire: “Die Blumen des Bösen”, in: ders.: Werke, Bd. 6, Dreieich: Abi Melzer, 1981, S. 218.

[20] Baudelaire, 1981, S. 164.

[21] Benjamin, GS I, S. 587.

[22] Ebd. S. 519.

[23] Ebd. S. 601.

[24] Ebd. S. 603.

[25] Baudelaire, 1981, S. 175.

[26] Benjamin, GS I, S. 603.

[27] Bertolt Brecht: Über Lyrik, Frankfurt a. M., 1964: S. 64.

[28] Vgl. Wolfgang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre: Baudelaire, Marx, Proudhon und Victor Hugo, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978.

[29] Benjamin, GS I, S. 604.

[30] Brecht 1964, S. 68.

[31] Benjamin, GS V, S. 459.

[32] Ebd.

[33] Ebd.

[34] Zitiert nach Benjamin, GS V, S. 1257.

[35] Benjamin, GS V, S. 1256.

[36] Ebd. S. 168.

[37] Ebd. S. 415.

[38] Ebd. S. 280

[39] Ebd. S. 466.

[40] Vgl. Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 222.

[41] Benjamin, GS V, S. 466.

[42] Ebd.

[43] Ebd. S. 274

[44] Baudelaire, 1981, S. 121.

[45] Benjamin, GS V, 422.

[46] Ebd. S. 676.

[47] Baudelaire, 1981, S. 39.

 

erschienen in: Kunst, Spektakel, Revolution No. 4 (2013).


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